"... weil die Dorfschlampe dachte, sie sei was Besseres."

 

Maikel wusste nicht, ob er das lustig oder traurig finden sollte.

Ein schmaler Junge mit riesigen, fettverschmierten Brillengläsern vor dem Gesicht sagte: „Mir ging es bisher genauso. In meinem Dorf gibt es keine Jobs, keine Frauen und nicht mal eine Kneipe, wo sich arbeitslose Männer wie ich besaufen könnten. Meine ganze Existenz kommt mir wie eine einzige Quarantäne vor. Als letztes Jahr das Virus kam und keiner mehr rausdurfte, war das die größte Zeit meines Lebens.“ Seine Augen glänzten hinter der verschmierten Brille. „Weil es da plötzlich allen genau so ging, wie es mir immer schon geht. Da konnte der Rest der Welt mal sehen, wie sich das anfühlt, wenn man vollkommen einsam ist.“

Die Offenheit dieses Jungen erschütterte Maikel. Bevor er darauf eingehen konnte, fügte Norman hinzu: „Ja, und wenn man nicht mal von der Dorfschlampe einen geblasen kriegt, weil die Dorfschlampe dachte, sie wäre was Besseres und müsste Abitur machen und wegziehen und in Leipzig studieren.“

„Bah, Leipzig“, knurrte jemand hinten. „Das neue Berlin, nur noch mehr von Zecken versifft.“

Maikel schluckte. Eigentlich war es doch gut, dass plötzlich die Wut dieser Leute an die Oberfläche kam. Dass sie aussprachen, was sie fühlten. Auf diese Art von Diskussion hatte er sich vorbereitet, aber von den vielen offenen, kompetenzorientierten Rückfragen, die er sich zurechtgelegt hatte, fiel ihm keine einzige mehr ein.

„Als das mit Corona anfing“, sagte jetzt ein älterer Mann mit sorgsam überkämmter Halbglatze, „hat mich das gleich an früher erinnert. Die ellenlangen Warteschlangen, die leeren Regale bei Edeka, die Jagd nach Klopapier, als ging es um Bananen. Aber anders als früher gab es kein Gemeckere, im Gegenteil – da war so ein Zusammenhalt spürbar, dass man sich gemeinsam verteidigen muss …“

„Jedenfalls hat das Virus eindeutig bewiesen, wie zerstörerisch die Globalisierung ist“, warf ein anderer Mann ein. „Wenn in Deutschland niemand mehr auf die Straße raus darf, weil zwei Monate vorher irgendein Chinese auf irgendeinem Markt ‘ne verseuchte Fledermaus gegessen hat, oder wenn deutsche Arbeiter ihren Job verlieren, weil in Amerika Hauskredite geplatzt sind, dann ist die Welt einfach viel zu sehr vernetzt. Aber Corona hat gezeigt, dass es offenbar doch möglich ist, die Grenzen zu schließen, wenn man überleben will.“

Maikel sah den Mann betroffen an. Hunderte Male hatte er selbst Sätze begonnen mit den Worten: Corona hat gezeigt, dass es offenbar doch möglich ist … Und darauf folgte so was wie: auf die Wissenschaft zu hören. Oder: weniger zu fliegen oder Auto zu fahren und generell auf Konsum zu verzichten. Inzwischen waren so viele verschiedene Themen angesprochen worden, dass er gar nicht mehr wusste, wo er einhaken sollte.

Da meldete sich André Posch.

„Erlauben Sie mir eine Frage, Maikel. Sie versuchen, klimafreundlich zu leben, Sie essen kein Fleisch und fahren fast nie mit dem Auto. Sie bemühen sich um das, was Sie faire Sprache nennen, man hört bei Ihnen sogar dieses Gender-Sternchen raus, wenn Sie reden. Sie versuchen sich stets so auszudrücken, dass keine gesellschaftliche Gruppe sich ausgeschlossen fühlt, haben Sie uns erklärt. Ich begreife, warum Sie das tun. Also bitte nicht missverstehen – ich teile weder Ihre Wahrnehmung noch gar Ihre Ziele, aber ich kann zumindest in der Theorie nachvollziehen, welche Argumente Sie benutzen und wie Sie das, was Sie sagen und tun, begründen.“

„Okay.“ Maikel nickte. „Aber was ist jetzt die Frage?“

„Was ich gerne von Ihnen wüsste.“ Posch lächelte gönnerhaft. „Ist ein solches Leben eigentlich nicht … nun ja … unfassbar anstrengend?“