Corinna

An die Scheibe klatschen Regentropfen. Blätter kleben daran und kleine Stöcke schlagen dagegen.
Der Wind rupft Pflanzen aus der Erde, reißt Wurzeln aus ihrer Verankerung und zerrt an den verbliebenen Frühlingsblüten, bis die Bäume und Sträucher sie nicht mehr an sich halten können.
Schon seit Wochen jagt ein Sturm übers Land, als gäbe es keinen Morgen mehr, und ich sitze auf meinem Bett und habe die Nachttischlampe angeknipst. Seit drei Stunden wechsle ich von meinem Smartphone zu meiner Abendlektüre und dann wieder zurück. Den Ton habe ich bereits auf Vibration gestellt und als mir das ständige Brummen auf den Wecker ging habe ich schließlich die Benachrichtigungen komplett ausgestellt. Und auch, wenn das Buch verhältnismäßig spannend ist, nehme ich nach ein paar Seiten wieder das Handy und öffne Twitter oder Facebook.

Es gewittert. Noch hört es sich weit weg an, aber der Sturm ist auch ohne Blitz und Donner heftig genug, sodass man gar nicht rausgehen möchte.
Im Frühjahr wurde Ostasien bereits von unermüdlichen Regenfällen und Taifunen geplagt – unüblich für diese Jahreszeit, aber Klimawandel lacht leise, jedes Mal, wenn jemand sowas sagt. Es dauerte nicht lang, bis auch wir diesen Sturm zu Gesicht bekamen. Wie ein Lauffeuer verbreiteten sich weltweit Regenwolken, aus denen es nicht mehr aufhören wollte zu gießen.
In den Nachrichten wurden Reden der Bundeskanzlerin und anderer Politiker übertragen, in denen dazu aufgefordert wurde, das Haus nicht oder nur im Notfall zu verlassen. Besonders Alte und Kranke wurden angewiesen, daheim zu bleiben. Schwere Äste und losgelöste Dachziegel stellten für jeden ein Problem da, aber auch ein kleiner Stock kann an gebrechlichen Menschen schwere Verletzungen hinterlassen.
Als es grade zu regnen begonnen hatte, gab es bereits die ersten Prognosen darüber, dass uns der Sturm mit voller Wucht treffen würde, und man gab ihm den Namen Corinna.
Corinnas schnürsenkeldicker Regen war grade mal der Anfang.

Es trieb die Panik in die Leute und die Leute in die Läden und so waren binnen Tagen – nein, Stunden – Regale leer gekauft. Alles was sich hielt war ein Grund es zu behalten.
Auch ich hatte versucht mich für den Fall einzudecken. Mein weiß ja nie. Wenn es tatsächlich hart auf hart kommen würde, und man für einige Tage oder Wochen die Wohnung überhaupt nicht mehr verlassen konnte, dann war ich wenigstens vorbereit. Ich und meine zwei Kilo Karottenpumpernickel, die ich eigentlich gar nicht so richtig mochte, meine dutzende Packungen Hartweizennudeln, meine Tomaten in jegmöglicher Form, meine Dosenravioli und meine zehn Packungen Kaffeepads.

"Amerika, das Land der Freiheit, würde seine Bürger nicht mit einer albernen Kopfbedeckung unterjochen."

Der Wind pfeift unter meiner Tür durch und sein schauriges Lied rüttelt mich von meinem Tagtraum wach. Mein Buch muss mir vom Schoß gefallen sein und hat sich zusammengeklappt, ohne dass ich nun weiß, bei welcher Seite ich war. Ich seufze, lege das Buch auf den Nachttisch und nehme mir stattdessen eine Tasse heißen Tee. Mittlerweile ist es kälter geworden und die Blätter, die es noch konnten, haben sich braun gefärbt und werden nun vom Wind mitgerissen.
Corinna hatte uns auch den Sommer über begleitet. Viele Veranstaltungen mussten abgesagt werden, weil man sie in keiner geeigneten Einrichtung abhalten konnte. Große Veranstaltungen, die ansonsten draußen stattfanden, wurden in ihrer Gesamtheit aufgegeben und die meisten Menschen wollten ihre Häuser auch nicht mehr verlassen, wenn es nicht unbedingt notwendig war.
Mittlerweile galt die Helmpflicht. Jeder musste einen Helm tragen, sobald er draußen unterwegs war, ansonsten war das Verletzungsrisiko viel zu groß. Die meisten trugen sie so oder so, viele noch zusätzlich dicke Schutzjacken und –hosen. Aber Helme waren nun mal für jeden ein Muss. Also kauften sich die Leute Helme. Und wie sie das taten. Diejenigen, die keine mehr zu kaufen bekamen, bastelten sich selber welche. Manche Menschen versuchten die Ordnungshüter sogar davon zu überzeugen, dass das Handtuch, das sie sich um den Kopf gewickelt hätten, ja absolut ausreichend, sicher und zuverlässig wäre. Sogar Papier- und Plastiktüten mit Luftlöchern wurden von einigen verwendet, die sich immer noch gegen die Helmpflicht sträubten. Albern sähe es ja aus, und so oder so hat ja niemand nachweisen können, dass es in dieser Hinsicht davor schützt, verletzt zu werden. Meteorologen und Wetterexperten würden sich diesen Unsinn eh nur zu Eigen machen, da sie und die Helm- und Nudelindustrie kurz vor dem finanziellen Einbruch ständen und man so einen harmlosen Sturm zu seinem Vorteil nutzen könnte.
Jedes Land handhabte natürlich seine Regulierungen zu Corinna anders. Auch wenn es ein weltweites Phänomen ist, hatte man den Eindruck, dass einige Regierungen das ganz und gar nicht so sahen. Der amerikanische Präsident sprach in großen Tönen von dem „China-Sturm“, dem china-gemachten Sturm, dem China-Wetter, es gab tausende Synonyme. Öffentlich rief er dazu auf, dass die Helmpflicht Unsinn wäre. Amerika, das Land der Freiheit, würde seine Bürger nicht mit einer albernen Kopfbedeckung unterjochen. In dem Land der Freiheit sollte jeder auch die Freiheit haben, sich dafür zu entscheiden, was er auf dem Kopf tragen wollte. Alles andere wäre ja Tyrannei.

Im Verlauf des Sturms Corinna starben Hunderttausende von US-Amerikanern an den Folgen von Verletzungen des Sturms oder im Sturm selber.

Wenn es also bei den Protesten, den Hamsterkäufen und dem gehässigen Gerede über die Wahrhaftigkeit Corinnas geblieben wäre, wäre das noch auszuhalten gewesen. Doch der Regen, der nur an seltenen Tagen eine Pause machte, hatte mehr zu bieten als Pfützen und mit Wasser gefüllte Schlaglöcher.
Keller liefen voll, Ackerboden wurde matschig und unbestellbar und es gab Erdrutschte. Genauso wie die brennendheißen Sommermonate der letzten Jahre traf der Regen die Landwirte. Die finanziellen Schäden und besonders die Versorgungsengpässe, die aufgrund der so oder so wahnsinnigen Hamsterkäufe bereits verstärkt wurden, waren nur schwer zu beheben und es brauchte Monate um sich irgendwie neu zu behelfen. Doch nicht nur der ständige Regen machte uns zu schaffen, auch die Sturmböen erreichten immer gewaltigere Geschwindigkeiten. Sie waren dafür verantwortlich, dass mittlerweile auch kleine und schwache Bäume aus der Erde gerissen wurden, und irgendwann war der Wind sogar stark genug gesunde Bäume abzubrechen oder aus ihrer Verwurzlung zu ziehen.
Es starben immer mehr Menschen als zuvor aufgrund der Gefahr außerhalb und innerhalb ihrer Wohnungen. Viele fühlten sich nicht mal in ihren eigenen Häusern sicher – andere hingegen, die in stabiler-bebauten Gebieten lebten, machten sich weniger Sorgen.
Jeden traf Corinna anders, aber uns alle traf es mit voller Breitseite.

Ein weiterer kleiner Ast schlägt gegen das Glas, ich stehe auf und gehe ans Fenster. Seit Monaten ist es düster, die dunkelgrauen Regenwolken schlucken das Sonnenlicht wie Verdurstende das Wasser. Eigentlich habe ich Stürme und Regen immer gemocht. Am liebsten habe ich mir einen Tee gekocht und mit der heißen und dampfenden Tasse in der Hand nach draußen geschaut. Nachts hatte ich das Fenster auf Kipp gehabt, damit ich mit dem Regenprasseln einschlafen konnte. Mittlerweile höre ich den Regen schon gar nicht mehr. Das Geräusch ist in den Hintergrund der normalen Alltagsgeräusche getreten und dort verschwunden.

Mit dem Finger fahre ich die Linien der Tropfen nach, die an der Fensterscheibe nach unten gleiten. In der Ferne zucken Blitze am Himmel und Donnergrollen rollt langsam in meine Richtung.
Jeden Tag hoffe ich darauf dass die Wolkendecke am Horizont endlich aufreißen wird.
Das einzige was wir tun können, ist uns zu verkriechen und die Welt machen zu lassen. Zu hoffen, dass unsere Inaktivität sie in ihrer Rage beruhigen würde. Zu hoffen, dass wir etwas mit unserem Handeln bewirken können.

Wer weiß, wie lange ich noch hoffen werde. 


Marie van Veen

Marie van Veen, 22, studiert Koreanisch und Asienwissenschaften in Bonn. Sie schreibt, seitdem sie schreiben kann, und möchte irgendwann ihre Brötchen mit Geschriebenem verdienen. Sie hat bereits in verschiedenen Anthologien veröffentlicht und ist unter anderem Mitglied im Literaturlabor Leverkusen.