Dank Corona aus der Zeit fallen, genau so wie M

M sagt, man kann die einzelnen Stadtviertel anhand des Mülls auf der Straße unterscheiden. Achtlos Weggeworfenes, das zum Beispiel vor ihrem Haus liegt, sei anders als der Müll in meiner Straße. Seitdem betrachte ich den mich umgebenden Unrat mit anderen Augen. Ich weiß jetzt, dass sich meine Nachbarschaft fett- und zuckerhaltig ernährt, dass Alkohol der Stoff ist, der das soziale Gefüge vor Ort zusammen hält, und Kinder mit kurzlebigem Plastikspielzeug ruhig gestellt werden. Ausgeweidete Fahrräder haben tatsächlich Skelette! Nie sieht man hier weggeworfene Zeitungen, stattdessen zerrissene Rubbel-Lose ohne Gewinn. Überhaupt sieht der Müll vor meiner Haustür aggressiv und nach Aufruhr aus. Lust auf Krawall springt einem aus zerbeulten Bierdosen und blutigen Taschentüchern entgegen. Die Müll-Analyse in Ms Revier sagt etwas über die träge Leidenschaft der Bewohner nach veganem Superfood aus. Es gibt kompostierbare Strohhalme aus Papier und namentlich beschriftete Becher von Starbucks.

Scheinbar banale, tatsächlich aber horizonterweiternde Beobachtungen zementieren Ms Nimbus als Alltagsphilosophin. Ständig fallen ihr interessante Dinge auf, ständig macht sie sich Gedanken. Sie tickt anders als all die anderen Menschen in meinem Umfeld. Als ich ihr vor einigen Jahren aufgelöst eröffnete, mein Mann habe mich verlassen, blitzten ihre Augen begeistert auf. „Das ist großartig!“, sagte sie damals feierlich und mit vollkommenem Ernst. „Jetzt lernst du dich endlich selbst besser kennen!“

Aus dem hektischen, lauten und sich selbst zelebrierenden Literatur-Zirkus hat M sich schon lange ausgeklinkt. Sie lebt eine unaufgeregte Schriftstellerinnen-Existenz wie im 19. Jahrhundert. Statt auf Lesereise zu gehen, geht sie spazieren. Briefe schreibt sie zahlreich – und mit der Hand. Vermutlich hält sie innerlich ständig Zwiesprache mit den Schwestern Brontë. What would Charlotte do? M kennt die Antwort. Flohmärkte sind ihre zweite Heimat – sie sucht konsequenterweise nach Büchern. Statt virtuelle Selbstvermarktung zu betreiben, tauscht sie sich mit einer Handvoll Kolleginnen aus. Sie hat einen festen Tagesrhythmus, hält die immer gleichen Rituale ein. Regelmäßig in die Bibliothek zu laufen und dort ihren Lesehunger zu stillen, ist ein fester Bestandteil davon. In Restaurants oder Cafés geht sie eher nicht, zu viele Menschen, zu wenig Geld. Dass sie als Künstlerin in einer hochpreisigen Gegend wohnt, hängt mit der stoischen Aufrechterhaltung ihres Ist-Zustands zusammen. Sie war schon da, als man das Wort Gentrifizierung noch im Duden nachschlagen musste. M besitzt weder eine Internetseite noch Facebook. Der tiefere Sinn von Instagram erschließt sich ihr nicht. Lesungen hat sie noch nie gehalten – eine unerklärliche Angst vor dem Publikum und eine ausgeprägte Unlust, einen Rollkoffer durch die Gegend zu schieben, hindern sie daran. Sie hat außerdem eine tief sitzende Scheu, sich selbst fotografieren zu lassen. Obwohl einige ihrer Arbeiten Achtungserfolge waren und sie ein herausragendes Talent besitzt, findet sich nirgends ein Bild von ihr. Es ist, als würde sie nicht existieren.

Als Corona den vorläufigen Höhepunkt erreichte und die ganze Welt in Schockstarre zu Hause saß, unfähig, es mit sich selbst auszuhalten, gebeutelt von Existenzangst und der Frage, wie die endlosen Stunden zu füllen seien, rief sie mich an. „Auf einmal leben alle wie ich“, stellte sie verdutzt fest. Für sie hatte sich rein gar nichts geändert.

M empfand ich immer als kluge, aber aus der Zeit gefallene Exzentrikerin. Manchmal hatte ich leises Mitleid. Warum nur steht sie sich selbst so im Weg? Sie hat das Aussehen einer Hepburn und den Intellekt einer Bachmann. Was gäbe das für schöne Interviews! Wie einfach könnte man ihre Fotos zu Werbezwecken verbraten! Würde M sich mit ausgebreiteten Armen in die gierige Manege des Literaturbetriebs werfen, sie könnte alle restlos verzaubern. Stattdessen sieht sie der graubraunen Mönchsgrasmücke beim Nestbau zu.

In den ersten Wochen der Pandemie lebte auch ich ein Leben wie M. Auf soziale Medien hatte ich keine Lust und sämtliche Lesungen waren abgesagt worden. Mein Kontostand sackte bedenklich ab, dafür begannen die Stunden sich satt und wohlig vor mir zu räkeln. Fasziniert sah ich den Vögeln beim Nestbau zu und ging regelmäßig in der Gegend spazieren. Mir fiel der unterschiedliche Müll hier und drei Straßen weiter auf.

Ich fing wie M an, mir Gedanken zu machen.


Kathrin Schrocke

Kathrin Schrocke wurde 1975 in Augsburg geboren. Sie studierte Germanistik und Psychologie und arbeitete im Anschluss einige Jahre als Pressereferentin im Verlagswesen und als Dozentin in der Erwachsenenbildung. Seit 2005 ist sie als freischaffende Autorin tätig. Ihre Jugendromane zu realistischen und gesellschaftskritischen Themen wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet. Kathrin Schrecke lebt in Essen und baut dort aktuell gemeinsam mit 40 weiteren Personen an einem Mehrgenerationenhaus.

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